A Guarda - Mougás

Tja, nun ist es also doch passiert: Thomas kann nicht mehr laufen. Das Kopfsteinpflaster hat ihm in den letzten Tagen so sehr zugesetzt, dass er gestern schon seine Kniebandage auf der anderen Seite getragen hat. Das bleibt ja auch nicht aus: Man hat Schmerzen im einen Bein, versucht es möglichst wenig zu belasten und - schwups! - ist man in einer Fehlhaltung und macht sich damit das andere Bein kaputt. Er hatte sich ja schon vor ein paar Tagen in der Apotheke Ibuprofen besorgt, die Pilgerdroge. Nein, solche Tabletten nimmt man nicht von daheim mit, die kauft man sich tatsächlich lieber in Spanien oder Portugal und ärgert sich ein bisschen gnadenlos, warum in Deutschland Medikamente so teuer sein müssen, wenn es doch ganz offensichtlich auch viel preiswerter geht!

 

Ich habe einmal eine Reportage über ein Medikament gesehen, das in Deutschland produziert wurde. Es wurde exportiert, ausgepackt, bekam einen neuen Beipackzettel und eine neue Verpackung, wurde wieder importiert, wurde ausgepackt, bekam wieder einen neuen Beipackzettel und eine neue Verpackung und war trotz dem ganzen Aufwand als Reimport billiger, als wenn man es gleich gekauft hätte. Hat man da noch Töne! Mich grauselt ein bisschen, wenn ich denke, wie viel Macht die Pharmaindustrie über uns hat!

 

Aber das nur am Rande und um mir nicht anmerken zu lassen, wie blöd ich mich fühle, wenn ich jetzt alleine losdackele. Natürlich laufen wir nur ganz selten zusammen, aber ich weiß doch immer, dass er irgendwo vor oder hinter mir ist - zumindest aber (hoffentlich) auf dem gleichen Weg wie ich. Wobei ich sagen muss: Als wir 2011 in Santiago ankamen und mir völlig wildfremde Menschen (vornehmlich Damen!) in den Straßencafés aufsprangen, um Thomas zu umarmen und sich mit ihm zu freuen, dass er es auch geschafft hat  - da hatte ich so meine Zweifel, ob wir wirklich auf dem gleichen Camino gepilgert sind!

 

 

Für Außenstehende mögen wir manchmal ein bisschen merkwürdig wirken, wenn wir so jeder für sich durch die Gegend stupfen. Für uns sind diese Freiräume aber einfach so wichtig wie Wasser und Brot - auf dem Camino und daheim. Heideröslein!, ich habe noch nie zu den "Spielerfrauen" gehört, die jedes Wochenende auf dem Fußballplatz standen und ihren Adonis anhimmelten, wie er sich mit fast zwei Dutzend anderen Adonissen um einen Ball kloppt (als "Spielermutter" war das was anderes! Da hab ich ... Oje, lassen wir das lieber! Nur so viel: Ich habe bei jedem Fußballspiel fast eine ganze Packung Zigaretten weggequarzt und war anschließend regelmäßig heiser). Eigentlich bin ich es ja auch mehr als gewohnt, alleine unterwegs zu sein, aber normalerweise ist das anders, dann ist Thomas daheim und ich auf dem Camino, dann ist das abgesprochen, dann habe ich mich darauf eingestellt, dann weiß ich, dass er mir meine Pilgerei ganz hemmungslos gönnen und sich mit mir freuen kann, dann kann ich es einfach genießen. Und der Weg heute ist echt ein Genuss! - Aber heute ist es anders:  Heute hockt er irgendwo in A Guarda fest und sucht einen Bus nach Mougás in der Hoffnung, dass morgen alles wieder gut ist. Natürlich hoffe ich das auch, ganz arg sogar, aber ich kann leider nicht wirklich daran glauben. Ich kenne ihn und seine Knochen, die gehen nicht heute abend zerschunden ins Bett und springen morgen wieder quietschfidel in die Stiefel. Ich fürchte, so einfach wird es nicht sein.

 

So dackele ich in Gedanken vor mich hin, versuche, die Situation für mich irgendwie auf die Reihe zu bekommen, trotzdem den Weg zu genießen, der mich anfangs mehr als schön auf Fußpfaden direkt an der Küste entlangführt - aber so wirklich will es mir nicht gelingen. Ich setze mich auf einen Stein und starre aufs Meer. Als ich merke, dass mir da nun auch keine Erleuchtung daraus entgegengesprungen kommt, mich am Schlafittchen packt und meine grauen Zellen in eine sinnvolle Reihenfolge rüttelt, gebe ich auf und mache erst in Oia die nächste Rast ... was allerdings auch daran liegt, dass ich erst hier an einer Bar vorbeikomme.

 

Ich bestelle schnell meinen Kaffee, besuche mal eben das stille Örtchen (mal ehrlich: Warum heißt es eigentlich "stilles" Örtchen? Ich meine, manchmal ist es da doch wirklich alles andere als still - je nach Geschlecht darum, weil Mädels halt nie alleine aufs Klo gehen (in einem Gruppenleiterseminar haben wir einmal fast eine ganze Nacht damit verbracht, dieses Phänomen psychologisch auseinanderzupfriemeln - ich sag euch: Das war ein Spaß!) bzw. Jungs ... oje, für dieses Phänomen würde jetzt eine Nacht nicht reichen!) und setze mich dann zu einem Herrn an den Tisch, rücke meinen Stuhl aber - und darüber muss ich im Nachhinein wirklich einmal über mich selbst grinsen! - ein bischen vom Tisch weg.

 

Also mal Hand aufs Herz: Bei einer solchen Mauer ist der Schritt zu Stacheldraht und Selbstschussanlage doch wirklich nicht mehr weit, oder? Und es ist so typisch deutsch: Man setzt sich nicht einfach zu jemandem dazu! Und es ist so typisch spanisch, dass das den Herrn am Tisch so gar nicht interessiert! Er spricht mich an, ignoriert auch meine anfangs noch einsilbigen Antworten und ruckzuck rutsche ich meinen Stuhl wieder weiter an den Tisch heran. Zur ersten Tasse Kaffe kommt noch eine zweite - den Whisky, den er mit anbietet, lehne ich allerdings dankend ab - Hallo! Hast du mal auf die Uhr geguckt? Und ich muss ja immerhin noch ein Stückchen laufen!

 

So, nun schaut euch mal gedanklich dieses Bild an, wie ich lache und die Zeit hier in der Bar genieße, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte, wie schön das ist ... und nun übertragt es mal auf andere Lebenssituationen, wie wir uns so oft abschotten, eingrenzen, abkanzeln und uns dabei um so viele schöne Erfahrungen bringen, die unser Leben so viel bunter, so viel lebenswerter machen würden! Mit ein bisschen Offenheit bereichern wir uns doch am Ende nur selbst! Warum fällt dann ausgerechnet DAS uns so schwer?

 

Ich gehe meine Caminos nicht unbedingt mit dem Anspruch, aus jedem Tag eine ach so kluge Weisheit zu ziehen, aber für heute hab ich doch eine: Ich habe mich heute ziemlich klein gefühlt und eine Mauer um mich gezogen, mit der ich mich nur selbst eingesperrt habe. Ich denke, wir bauen ganz oft Mauern, um unsere eigene Kleinheit zu bedeckmänteln, zu rechtfertigen und nehmen uns unter dem Vorwand, uns selbst zu beschützen zu müssen, selbst alles. Es ist ein bisschen, wie wenn man durch sein Haus geht und alles zerschlägt, damit ein Einbrecher uns nur ja nichts mehr wegnehmen kann. Hm. Freilich: So geht es auch. Aber bitte, Kinders, wenn dann auch die allerletzte Tasse zerdeppert auf dem Boden liegt und ich mich von getaner Arbeit bei einem Kaffee ausruhen möchte ... Ach ja, dann sind es natürlich die blöden Einbrecher, die daran schuld sind, dass ich mich wie ein Trottel vor meiner Kaffeemaschine verrenke

und versuche, das koffeinhaltige Heißgetränk mit ausgestreckter Zunge aufzufangen und mir dabei fürchterlich den Mund verbrenne! Hätte ich keine Angst vor denen haben müssen, hätte ich nicht alles in Scherben gelegt! Und dann sind die noch nicht einmal gekommen, diese blöden Idioten!!!

 

Ojeojeoje, jetzt habe ich mich aber wirklich versabbelt. Heideröslein!, dabei hockt Thomas bestimmt schon in Mougás in der Herberge auf heißen Kohlen und wartet darauf, dass ich endlich komme! - Und die "Dame", die anfangs noch ihren Stuhl weggerutscht hatte, verabschiedet sich mit einer herzlichen Umarmung von ihrem Gesprächs- partner und dackelt mit blitzenden Äuglein und noch eine ganze Weile leise vor sich hinkichernd davon ... im Hintergrund geht die Sonne über dem Meer unter ... Ende ... Abspann.

 

Nein, leider endet dieser Tag nicht so schön: Jesus konnte zwar Lahme heilen, aber dieser Ruhetag hat Thomas Beinen leider keinen Deut weitergeholfen und er muss sich eingestehen, dass sein Camino hier zu Ende ist. Glaubt mir, das ist ein hartes Stück Brot.

 

 

Nein, so möchte ich diesen Tag zumindest hier im Blog aber nicht zu Ende gehen lassen, denn es passiert auch noch etwas sehr Lustiges: Wir verbringen den Rest des Tages vor allem in der Bar neben der Herberge und ersäufen unseren Frust in Clara (Bier mit Limonade). Zwischendurch ziehen wir uns einen Augenblick zurück und als wir wieder auf die Kneipe zusteuern, wisst ihr, wer da sitzt? - Genau, mein Gesprächspartner von Oia! Zu seinem zweiten oder dritten Whisky von mittags ist wohl noch der eine oder andere dazugekommen, jedenfalls ist er ziemlich ... guter Stimmung und ich bin ehrlich gesagt ein bisschen dankbar dafür, denn so verscheucht er nicht nur meine trüben Wolken aus dem Kopf.

 

Auch sehr lustig: Ich bin heute hier nicht seine einzige Pilgerbekannte. Er hat offensichtlich fast jeden in unserer Herberge im Laufe des Tages kennengelernt. Kunststück, wenn man den ganzen Tag vor der ersten und einzigen Bar auf einer Tagesetappe sitzt, lernt man je nach Rucksack-trägeraufkommen eine ganze Menge Menschen kennen!