Zurück auf den Weg: Vila do Conde - San Pedro de Rates

Nach einer schier unendlich langen Fahrt zurück nach Porto und einer zumindest gefühlt ebenso endlosen nach Vila do Conde (es ist so klasse!: An den Ticketautomaten der U-Bahn stehen ganz oft Bedienstete, die so dussligen Touristen wie mir helfen, das richtige Ticket zu ziehen! Das sollte es doch bitte auch in Deutschland geben! Ich erinnere mich noch daran, wie ich, als Marius noch ganz klein war, nach jahrelanger Bahnfahrtabstinenz mit ihm nach Karls- ruhe fuhr und trotz gelöstem Ticket fast als Schwarzfahrer hätte zahlen müssen, weil lich es nicht entwertet hatte. Hallo! Als ich das letzte Mal zu Schiene unterwegs war, gab es einen Schaffner mit Lochknipser - Schaffner kommt, knipst ein Loch in die Karte, Karte ist entwertet und das Gesicht gemerkt. Den hatte man inzwischen wegrationalisiert und durch einen zugegeben netten, jungen Herrn ersetzt, der meine Entrüstung zwar nicht richtig nachvollziehen konnte (ich hörte ihn schier denken: Heideröslein!, aus welchem Jahrhundert ist die denn entsprungen?!!!) ... aber zum Glück war der Entwerteautomat am Bahnhof eh defekt und von daher hätte ich gar nicht entwerten können, auch wenn ich gewusst hätte, dass ich hätte entwerten müssen) kann es endlich losgehen: Andrea zurück auf Pilgerfüßen!

 

Ich muss gestehen, dass das nicht uneingeschränkt ein schönes Gefühl ist. Nein, ganz im Gegenteil, in mir sind nur dicke, fette, graue Wolken! Wir hatten uns das alles anders ausgedacht. Eigentlich wollten wir ja noch zusammen und an der Küste unterwegs sein, jetzt bin ich alleine. Natürlich bin ich das gewohnt und natürlich genieße ich das Alleinsein, wenn ich mich vorher darauf habe einstellen können. Dann ist es so geplant und richtig. Im Moment gerade ist gar nichts richtig! - und zwar nicht nur für mich, sondern auch für Thomas, was das Ganze nur noch hässlicher macht. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie er sich gerade fühlt!

 

Natürlich wäre es rationell logisch gewesen, jetzt erst einmal den Küstenweg zu gehen, aber bei dem Gedanken wachsen mir überall Platterwarzen, das geht gar nicht! Ich warte, ob es sich in Vila do Conde anders anfühlt, tut es aber nicht. Ich brauche Abstand, um zu akzeptieren, dass Thomas nicht mehr dabei ist, um mich auf die neue Situation einzustellen. Wie ich mich im Moment fühle, könnte das Meer statt aus Wasser aus Leckerschneckchen (das sind meine Lieblingsgummibärchen - wenn ihr die mal in einem Laden seht, probiert sie! Die sind so klasse!) bestehen - ich würde nicht eine davon essen wollen (und das will was heißen!). 

 

Unterwegs, als es Thomas noch gutging, hatten wir schon miteinander beschlossen, dass ich nicht mit ihm nach Hause fliegen würde. Eigentlich wollte ich einen Bauchfüßler nur über den Küstenweg und den Camino Espiritual schreiben, aber als wir so gepilgert sind, habe ich schon gedacht, dass das nicht richtig ist. Wenn, dann muss ich alle Wege beschreiben, damit der Leser immer die Möglichkeit hat, von dem einen auf den anderen Weg zu hüpfen. Ich weiß, dass es Bücher gibt, die nur aus Internetrecherchen bestehen, das ist aber gar nicht mein Ding. Hier und da gibt es Passagen, die ich auch nur erguckelt habe, aber die kennzeichne ich extra, weil ich kein gutes Gefühl dabei habe. Also lautete der Beschluss, dass ich den Zentralweg gehen muss.

 

Ich bin froh, dass das schon vorher feststand, denn jetzt kann ich das als Haken nehmen und versuchen, mit ihm wieder Land - oder vielmehr Kopfsteinpflaster - unter die Füße zu kriegen ... was mir aber auch nicht wirklich gelingen will.

 

Eigentlich weiß ich ganz genau, dass ich in Vila de Conde gleich an der Brücke nach rechts muss ... uneigentlich bin ich aber total unsicher. Vielleicht brauche ich auch nur mal eben kurz eine menschliche Stimme, die sich mit mir unterhält, jedenfalls spreche ich einen Herrn an, der auf einer Bank sitzt und so aussieht, als ob er mir helfen könnte, und, Kinders, das wird eine Schwerstgeburt!

 

Die Portugiesen sind ein sehr hilfsbereites und ausgespro- chen freundliches Völkchen, aber sie haben 1. eine grausige Aussprache und sind 2. eingefleischte Autofahrer. Nachdem wir endlich (und fragt nicht, wie lange es gedauert hat!) herausgefisselt haben, dass ich nach - Achtung! - "Chrrratts" (so wird das so melodisch geschriebene Rates in Portugal ausgesprochen und ich denke unwillkürlich an langschwan- zige Nagetiere) - möchte, schickt mich dieser Herr hart- näckig in Richtung Póvoa de Varzim, wo ich aber ganz bestimmt nicht hinwill, weil ich da ja schon war, was ihn aber nun nicht die Bohne nicht interessiert. Und dann wird mir auch klar, warum Chrrratts Chrrrats heißt: Der Herr springt auf und zieht, mich in seinem Schlepptau mitreißend, davon. Hallo! Ich möchte das nicht! Ich möchte nicht nach Póvoa de Varzim, ich möchte nach Rates - R-a-t-e-s! Und dann wedelt er mir auch noch die Wegführung auf der Straße entgegen und da wollte ich ja schon vor ein paar Tagen nicht entlanglaufen!

 

In solchen Situationen warte ich sonst ab, bis mich wirklich hilfsbereite Menschen nicht mehr dabei erwischen, wenn ich mich über ihre Beschreibungen hinwegsetze, weil ich es einfach mehr als unhöflich finde, erst zu fragen und dann etwas ganz anderes zu tun. Aber hier ergibt sich für mich einfach keine Gelegenheit. Ich flüchte unter dem Vorwand, erst noch eine Tasse Kaffee trinken zu wollen, in eine Bar, die mit einer Strahelnmuschel und Pilgermenü für mich den Eindruck macht, als ob man mir dort weiterhelfen könnte (eigentlich wusste ich den Weg ja von Anfang an, aber das wilde gefuchtel dieses netten Herrn hat mich nun derart aus der Rolle geworfen, dass ich gerade nicht mehr weiß, ob ich Männlein, Weiblein oder Rättlein bin!). Aber als ich den Wirt nach dem Weg frage, zuckt der nur mit den Schultern! - Nee, ne!

 

Höflichkeit hin und Undank her: Ich muss jetzt einfach nur aus dieser Stadt raus! Den Weg zum Waschraum kennt der Wirt zum Glück und da stehe ich nun vor einem Spiegel und schaue mir tief in die Augen: Kleines, guck hin, du bist auf der Damentoilette, du bist eine Frau, du weißt den Weg also GEH IHN! ... Aber vorher nutze ich noch die Gelegenheit das zu benutzen, was man eben so auf einem WC benutzt (das ist der einzige Punkt, wo ich wirklich lieber ein Mann wäre: Männer können immer und überall müssen, während Frauen nur müssen dürfen, wenn sie können, davon einmal abgesehen, dass ich eh muss, weil ich vorher nirgends habe müssen können). Das verschafft mir auch noch ein paar Sekunden, in denen ich mich selbst davon überzeuge, dass ich jetzt zum Himmeldonnerwetter noch eins! zum Fluss zurückmarschiere und dann dort weitergehe, wo ich weiß, dass es weitergeht. So! Ich hoffe nur, dass der freundliche Herr nicht irgendwo hinter einer Ecke auf mich lauert und wieder auf den "richtigen" Weg scheucht.

 

Und siehe da: Wenn man nur genau hinsieht, findet man auch gleich nach wenigen Metern einen gelben Pfeil!

 

 

Der Weg verläuft ausschließlich auf Straßen, nur der Belag wechselt manchmal von gepflastert auf asphaltiert und dann wieder gepflastert. Bürgersteige gibt es nur ganz selten. Dabei fahren die Autos hier wirklich wie aufgekratzte und mit einem großen Bombenkracher erschreckte Borstentiere. 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften - ist ja nun wirklich ein bisschen schwierig, weil sich hier ganz oft gar nicht feststellen lässt, wo die eine Ortschaft anfängt und die andere aufhört und ob man nun gerade in einer ist. Eigentlich ist das ganze Gebiet hier eine geschlossene Ortschaft, aber wer will sich schon mit seinem Auto immer nur im 3. Gang fortbewegen? Würde ich auch nicht wollen, denke ich und versuche, ein bisschen Verständnis aufzubringen, aber das gelingt mir nur, wenn ich gerade nicht um mein Leben zittere. "Wenn der Verkehr fließen soll, gehören Fußgänger unter die Erde!" oder Pilgerchen eben zum Heiligen Jakobchen und zwar höchstselbst, nicht nur zu seinem Grab - aber flott! denke ich und erschrecke, weil mir gerade ein entgegenkommendes Auto zuhupt und einen hochgestreckten Daumen zeigt. Och, sie sind halt wirklich nett, die Portugiesen.

 

 

 Als ich die Herberge betrete, fühle ich mich ein bisschen ... ich weiß nicht wie, ein bisschen wie ein gestrandeter Wal auf einem hohen Berg. Alle hier kennen sich ja schon und ich komme jetzt als Neuling dazu und muss mir erst noch mein Plätzchen suchen und finden. Eine Dame wuselt durch die Gegend und scheint alles ein bisschen zu organisieren. Dass sie gar nicht zur Herberge gehört, merke ich erst, als ich ihr in der Herberge in Barcelos erneut begegne, wo sie ebenso diensteifrig herumhüpft und nunmehr von einer jungen ankommenden Pilgerin als Hospitalera angesprochen wird.

 

Aber das ist ja erst morgen, heute jedenfalls denke ich, dass es zwei Hospitaleras gibt, eine, die schreibt, und eine, die organisiert. Und alle kennen sich und ich muss erst mein Plätzchen fin....

 

Nee! Da kommt eine Dame mit Lockenwicklern aus einem Schlafraum und verschwindet mit einem Kamm im Bad! Nee, ne! Neeeee! Wo bin ich denn hier gelandet? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in dieser Pilgergruppe ein Plätzchen für mich gibt - aber so ganz und gar nicht! Und das ist auch gar nicht schlimm, weil das möchte ich auch gar nicht! Da passe ich nicht hin!

 

Nachdem ich sorgfältig als übernachtende Pilgerin erfasst bin, stellt mich die Hospitalera vor drei Räume mit Stockbetten, zuckt die Schultern und murmelt etwas, was ich als "such dir ein Bett aus" deute. Ein Zimmer ist noch ganz leer, was mir gerade nicht unlieb ist. Ich lasse mich auf ein Bett fallen und muss mich erst einmal sortieren: Neuer Weg, neue Pilger ... ... mit ... ... Lockenwicklern!

 

Nachdem ich mein Bett bezogen, geduscht und gewaschen habe, begebe ich mich auf Nahrungssuche und finde einen ganz süßen Tante-Emma-Laden, in dem gerade eine jüngere Dame mit Tante Emma in einem lebhaften Gespräch vertieft ist. Als ich nach "pan" - Brot - frage, bekomme ich eine kleine und sehr liebe Lektion in gutem Benehmen in Portugal. Nein, wirklich und ganz ohne jede Ironie: Die jüngere Dame freut sich offensichtlich ganz tierisch, mit mir in Englisch parlieren zu können (jaja, ich weiß, parlieren passt bei Englisch nicht, aber speakieren hört sich echt doof an!) und erklärt mir, dass Portugiesen es nicht besonders mögen, in Spanisch angesprochen zu werden. Dann lieber in Englisch. Und tatsächlich sprechen ganz viele Menschen in Portugal richtig gut Englisch, schließlich gab es hier früher ganz viele Engländer druch den Handel. Dabei bekomme ich nebenbei noch eine kleine Portugiesischstunde ... und dann mein pao und meine maca (Apfel - denkt euch einen Schruzel unter das c und über das a) und meine banana.

 

Später am Abend, kommt noch eine kleine Radlerfamilie, Mutter, Vater, Sohn von ca. 11 - 12 Jahren an und zieht, geleitet von der eifrigen Mitpilgerin, in mein Zimmer ein. Das ist mir ganz recht, so bin ich nicht alleine und doch von keinen Lockenwicklern umgeben (es tut mir leid, jeder soll und darf gerne nach seinem Geschmack leben, aber mal ehrlich: Ich und Lockenwickler - ich dachte, die Dinger wären längst ausgestorben!). Anfangs stört mich auch das Tütengekruschpel gar nicht, ich tingel noch ein bisschen in der Gengend herum, lese, denke vor mich hin, versuche noch immer, mich auf diese neue Situation alleine auf Jakobchens Wegen einzulassen. Irgendwann frage ich mich dann schon, was man eigentlich alles in seinen Satteltaschen herumfahren kann, dass man so lange mit hin- und herpacken beschäftigt ist. Als ich mich zum Schlafen lege, haben sie es wohl endlich geschafft, denn sie sind nicht mehr im Raum und wohl zum Essen ausgegangen, und ich düddele langsam weg ... und kann es nicht glauben: Als sie zurückkommen, geht das Gekruschpel weiter! Und nicht mal eben kurz, um die Zahnbürste zu suchen, nein, ich glaube, es gibt nichts in diesen Satteltasschen, was sie nicht mindestens fünf mal ein- und wieder auspacken.

 

Wann sie endlich fertig sind, merke ich nicht mehr, denn ich habe meine Ohren verstopft. Aber ich kann euch versichern, dass sie eine kurze Nacht hatten, denn um 6.00 Uhr morgens schrecke ich von einem Wecker auf, den ganz bestimmt nicht ich gestellt habe. Ich versuche noch ein Weilchen, alles um mich herum zu ignorieren, stehe dann auf und mache mich fertig. Als ich die Herberge verlasse, überschlage ich kurz: Ich glaube, Familie hat noch nicht einmal die Zähne geputzt. Kein Wunder also, dass sie so früh aufstehen müssen, denn zwischen dem Packen am Morgen und dem am Abend bleibt nicht so furchtbar viel Zeit.