San Pedro de Rates - Barcelos

 

Als ich die Herberge verlasse, fühle ich mich noch reichlich unfrisch: Thomas inzwischen wohl auf dem Weg zum Flughafen, eine Dame mit Lockenwicklern, Tütenkruschpel- fahrradfahrer ... und dazwischen ich. Nein, ich bin noch nicht wieder angekommen auf dem Camino. Es ist noch ein bisschen, als hätte man mir Arme und Beine weggenom- men, ich bin irgendwie ... unrund. Kurz überlege ich, ob ich frühstücken soll, stehe dann aber vor dem Café und ... dackele weiter. Und weil ich so mit mir beschäftigt bin, achte ich freilich auch nicht auf die gelben Pfeile, sondern laufe einfach ... vielleicht auch von allem weg, weil ich da eh nicht dazugehöre, und selbstverständlich erst mal ein gutes Stück in die falsche Richtung. Dabei bin ich auch so damit beschäftigt, mich selbst zu bemitleiden und meine Wunden zu lecken, dass ich das erst ziemlich spät merke. Na klasse!, das fängt ja guuut an!

 

Irgendwann unterwegs treffe ich Frau Lockenwickler mit ihren Freundinnen wieder, wie sie, obwohl der Pfeil hier ganz klar nach links zeigt, von einem Herrn nach geradeaus geschickt werden und seinem Fingerzeig bereitwillig folgen. Der andere Weg würde, so versichern sie mir, sehr anstrengend bergauf gehen und dann eh nur auf diese Straße zurückführen. Letzteres stimmt auch, aber das mit dem anstrengend bergauf ... Für mich ist das ein leider viel zu kurzes Stück Naturweg durch einen Eukalyptuswald. Joa, es geht ein bisschen bergauf, aber anstrengend ... ? - Ich finde immer, ich höre mich ein bisschen überheblich an, wenn ich sage, dass ein Weg nicht anstrengend ist. Anstrengend ist ja eigentlich alles, jeder Schritt, der ganze Weg. Immerhin ist man tage- und wochenlang mit einem großen Rucksack unterwegs. Aber für mich fühlen sich Wege anders an als für andere: Ich liebe Naturwege - andere gehen lieber auf Asphalt. Ich gehe gerne bergauf (noch lieber freilich bergab), weil man von oben immer so eine schöne Sicht hat ... was hier aber leider nicht wirklich passt, weil diese ach so anstrengende Bergaufstrecke ganze 800 m weit ist. Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass man da nicht wirklich in höhere Gefilde kommt. Wir sind ja schließlich auch nicht in den Alpen!

 

Ich mag das Wanderlatein nicht, mit dem Menschen manchmal aus einem Weglein eine halbe Expedititon auf den Mount Everest machen. Am Ende liegt es doch an mir, ob ich mich quäle oder nicht. Gut, schnaufen tu ich auch - aber das tu ich ja immer und das ist auch gut so (stellt euch mal die Alternative vor!) ... meistens allerdings wirklich ziemlich beeindruckend. Ich muss dann immer lachen, wenn ich daheim meine Sprachaufzeichnungen abhöre. Heideröslein!, das hört sich ja an! Unser Leben Felix ist einmal total erschrocken, als ich am Abhören und Arbeiten war (ich quassel mir ja immer die Wege aufs Handy, um hinterher meine Bauchfüßler zu schreiben; ich finde, ich kann einfach nur dort wirklich gut formulieren, wo ich gerade bin), kam in mein Zimmer gestürzt und hat mich gefragt, ob denn alles gut ist. Jaaa sie lebt noch, sie lebt noch, sie lebt noch! ... wenn das auch kaum zu glauben ist, bei meinem Gejapse! Aber - ähm! - das liegt nun wirklich nicht am Weg.

 

Irgendwann überholt mich Ken, ein Amerikaner mit dunkler Hautfarbe und keinen Haaren auf dem Kopf, aber dafür sehr ... ausdrucksstarken Augenbrauen. Diese Beschreibung hört sich ein bisschen komisch an. Tatsächlich ist es so, als würde sein Gesicht vorne aus dem Hemd herauskommen und hinten im Kragen wieder verschwinden. Immer, wenn er etwas lustiges sagt, hüpfen seine Augenbrauen und man sieht schier den Narren in seinem Nacken sitzen. Wir laufen ein Stück gemeinsam und unterhalten uns. Mir tut das einfach nur gut, weil er, seit ich alleine unterwegs bin, der erste Mensch ist, mit dem ich mich austauschen kann. Und ihm tue ich offensichtlich auch gut, denn er ist sehr alleine unterwegs, hat die ganze Reise daheim vorgebucht, schläft in ziemlich noblen Hotels mit Wellness und Hastenichtge- sehen, was ihn aber nicht wirklich glücklich macht, weil er so einfach immer separiert bleibt. Natürlich mag er es sich gar nicht vorstellen, in einer Herberge zu schlafen, aber hier beißt sich eben die Maus selbst in den Allerwertesten: Wenn man das nicht tut, läuft man echt Gefahr, sehr einsam vor sich hinzupilgern. - Naja gut, ich schlafe in Herbergen und ... Ach, ich brauche einfach noch Zeit. Ich bin ja bestimmt ein offener Mensch, dem es gar nicht schwerfällt, auf andere zuzugehen, aber im Moment bin ich einfach noch zu sehr mit mir selbst beschäftigt.

 

Weil er auch sein Gepäck transportiert bekommt, ist er sehr leichtfüßig unterwegs und irgendwann mit meinem Tempo einfach unterfordert. Aber das macht nichts, wir werden uns noch ganz oft wiederbegegnen!

 

Ansonsten verläuft der Tag für mich völlig ereignislos. Ich habe auch nur ganz wenige Fotos gemacht, wahrscheinlich weil ich mit dem Kopf mehr in mir selbst feststecke als in den Augen. Es ist auch noch ziemlich früh, gerade mal 13.30 Uhr, als ich in Barcelos ankomme, und ich überlege kurz, ob ich nicht weitergehen soll. Früh ankommen ist immer gut und schön, aber man hat so furchtbar viel Resttag, den man irgendwie verbringen muss. Aber mir ist irgendwie nicht danach und von Lauflust kann gerade bei mir eh keine Rede sein. Also habe ich die Wahl, unlustig weiterzulaufen, Kilometer zu machen, die ich aber gar nicht wirklich wahrnehme und schon dreimal nicht genieße, oder hier zu bleiben und zu hoffen, dass die düsteren Wolken aus meinem Kopf verschwinden.

 

Eine guute Idee war das! Ich bleibe in der Herberge der Amigos de Montanha - für mich eine der schönsten auf diesem Camino: Die Betten sind fest und wackeln nicht bei jedem Atemzug, die Matratzen sind zwar auch mit Hygienebezügen, aber nicht aus diesem hässlichen, unangenehmen und sehr kalten Plastik, an denen man ständig kleben bleibt wie eine Fliege an diesen Klebedingern, die so grausig aussehen (lacht nicht! Ich habe auf den Plastikdingern immer fürchterliche Phantasien und verbringe manchmal die ganze Nacht damit, sie nur ja um Himmels Willen auf keinen Fall zu berühren), die Terrasse ist klasse und die Küche hervorragend ... auch wenn ich sie nicht benutze. Es gibt sogar einen richtigen PC! ... den ich aber auch kaum benutze, weil ich nämlich lieber erst einmal einen Stadtbummel machen möchte ... und der dauert.

 

Als erstes gehe ich zur Brücke Ponte Medieval hinunter und finde auf der gegenüberliegenden Seite eine Wassermühle mit einer großen Pilgermuschel drauf. Das macht mich neugierig: Es ist ein Help Point für Pilger, in dem man Informationen und einen Stempel bekommen kann. Ist das klasse!

 

Und dann verbringe ich eine gaaanz lange Zeit auf dem Campo da República, denn heute ist Donnerstag und da findet wöchentlich der Feira da Barcelos, Portugals größter Wochenmarkt, statt. Und der ist wirklich riesig! - Allerdings bin ich ja Pilger und müsste alles, was ich kaufe, erst noch wochenlang mit mir herumschleppen, also gucke ich eben nur mit den Augen ... und knabbere hier und da an meinen Fingerspitzen, wenn die in meiner Bauchtasche nach dem Geldbeutel suchen wollen.

 

Aber auch sonst ist diese Stadt einfach nur schön und ich genieße jeden Moment, verweile ein bisschen in der sehr alt anmutenden Kirche Nossa Senhora do Terco ... und dann betrete ich die Igreja do Bom Jesus da Cruz und kriege solche Halsknödel, dass ich auch ohne bergauf und steil und anstrengend nach Luft schnappen muss: Eine solche Kirche habe ich noch nie erlebt! Natürlich ist ihr Innenraum beeindruckend, aber was mich wirklich berührt, sind die Menschen. Ich habe noch nie eine Kirche besucht, in der ein solches Gemurmel war. Ganz viele Menschen stehen, während ich auf einem der Lederhocker Platz nehme, um mich herum und jeder von ihnen murmelt vor sich hin. Es ist, als wären die Gespräche mit Gott so wichtig, dass man sie einfach nicht nur im Kopf führen kann, und das ist ... ziemlich beeindruckend. Und ich kann es ganz in Ruhe auf mich wirken lassen, denn ich verstehe ja keines der geflüsterten Worte und brauche mich nicht als Eindringling zu fühlen.

 

Ich glaube, wenn mich nicht irgendwann der Hunger überkommen hätte, würde ich da noch immer sitzen!

 

Und auch für was das Essen angeht war es eine ausgesprochen gute Idee, in Barcelos zu bleiben, denn vor der zweiten Herberge, die direkt am Fluss liegt, gibt es heute eine Fado-Abend mit lecker "Häppchen" nach portugiesischer Art. Leider ist für die Holländerin, die mich dorthin begleitet, nichts für Vegetarier angemessen Fleischfreies dabei. Die Portugiesische Küche ist überhaupt so fleischlastig, dass Vegetarier hier wirklich ein Problem haben. Also geht sie weiter auf der Suche nach Essen mit ohne toten Tieren und lässt mich alleine zurück ... als einzige Pilgerin ... einzige Ausländerin weit und breit ... die gnadenlos umsorgt wird! Es ist so herrlich! Ich muss probieren und versuchen, werde von zwei älteren Herren mit Zahnstochern gefüttert, bestelle mir dann auch das Gericht (aufgrund des Gegackers rund um mich herum nehme ich an, dass es Geflügel ist - schmecken tut es allerdings mehr nach Schwein ... geflügeltes Schwein vielleicht ... oder Huhn mit Grunzfehler?), aber auch von den anderen Köstlichkeiten bekomme ich kleine Probiererchens gebracht und muss zu jedem meinen Kommentar abgeben. Es ist klasse!

 

Ach ja, Kinders, dass ich nicht weitergegangen bin, war eine wirklich guuute Idee!