Rubiaes - Tui

Ach, ich bin heute einfach gut drauf. Der gestrige Tag mit dem schönen Anstieg zum Franzosenkreuz, das nette Mittagessen, die Herumblödeleien mit Antoine und das schöne Abendessen wirken in mir irgendwie total nach. Alles ist so ... frisch und rosarot heute!

 

Außerdem ist der Weg wirklich schön und macht über lange Strecken einfach nur Spaß! Er führt mich durch Felder zu einer wunderschönen, alten Steinbrücke über den Rio Coura. Dann geht es auf Pflaster durch Wiesen und Weiden nach Sao Bento und anschließend  zum großen Teil über Naturwege durch Felder, Weinstöcke und Felder.

 

Kurz vor Valenca begegnet mir ein Pilger, der auf dem Weg zurück nach Porto ist. Mir kommt das ja immer ein bisschen komisch vor, wenn mir ein Muschelträger entgegenkommt, vor allem, weil ich es mir furchtbar einsam vorstelle. Er begegnet jedem Gesicht ja nur einmal, trifft abends in den Herbergen immer andere, die sich vielleicht schon kennen und sich viel zu erzählen haben. Also ich habe abends immer ganz viel zu erzählen! - Kunststück: Tagsüber quassel ich hier und da schon manchmal vor mich hin, aber das ist so überflüssig, weil ich ja immer schon vorher weiß, was ich mir zu sagen habe. Natürlich ist das für mich kein Hindernis, mir trotzdem die Ohren abzuquasseln. Ich unterhalte mich eben immer gerne mit intelligenten Menschen. Aber manchmal gehe ich mir mit meinem Gequake derart auf den Senkel, dass ich mir gegenüber fast schon ein bisschen unhöflich werde und mich bitte, doch endlich einmal die Klappe zu halten. Das tu ich dann auch. Und manchmal bleibe ich stehen und schweige von ganz von alleine, weil es einfach zu schön ist, wo ich bin, als dass ich es mit Worten zerreden wollte. Aber ...

 

Entschuldigung, ich bin ja eigentlich bei dem Rückwärtspilger: Also ich stelle mir das furchtbar einsam vor. Und auch ein bisschen doof, weil ja alle anderen in den Herbergen darauf brennen dort anzukommen, wo man ja gerade herkommt. Man kann kein Anteil haben an dieser ... vorfreuigen Spannung. Hm. Andererseits ist Rückwärtspilgern durchaus auch ein Stückchen Camino. Früher mussten die Menschen ja auch wieder nach Hause kommen. Ich meine in der Zeit, bevor es Bus-, Bahnhöfe und Flughäfen gab. Spirituell gilt der Weg nach Santiago noch immer als Weg zum Wechsel, zur Veränderung, seine Kathedrale noch immer als Punkt der Umkehr. Nicht für umsonst sind die Zeichen für Alpha und Omega an ihr in umgekehrter Reihenfolge angebracht, Omega und Alpha. Hier ist das Ende des bisherigen Lebens, dem der Beginn eines neuen Lebens innewohnt und dieses neue Leben beginnt in Besinnung, nicht im Einchecken des Rucksacks. Viele Menschen können es sich nach dem Besuch der Kathedrale auch beim besten Willen nicht vorstellen, direkt wieder in den Alltag, direkt wieder in die Geschwindigkeit durch Pferde- oder Kerosinstärke (wie heißt PS eigentlich bei Flugzeugen? Spatzen- oder Flügelstärke?) zurückzukehren. Sie wünschen sich noch ein bisschen mehr Zeit zum Innehalten. Das ist übrigens mit ein Grund, warum viele Pilger nicht Santiago als Ziel haben, sondern Finisterre oder Muxia: Nach der Aufregung der Stadt und des fliegenden Weihrauchkessels gibt vielen Menschen der Weg dorthin noch einmal diese Ruhe des Caminos zurück, lässt sie nach der Wanderung nach Santiago noch einmal durchatmen, ein letztes Mal neu sortieren und aufstellen, schenkt ihnen Zeit, noch einmal über die gewonnenen Erkenntnisse, Ziele und gefundene neue Lebensweise nachzudenken und sie in sich zu festigen, lässt sie sich rüsten für die Rückkehr in den Alltag. - Ich finde, das ist ein schöner Gedanke. Ich selbst kann es mir nicht vorstellen zurückzupilgern und in Finisterre oder Muxia war ich noch nie, weil ich dort nicht ohne Thomas ankommen möchte (eigentlich war die Wanderung dorthin für dieses Jahr geplant, aber nun ist mein allerliebster Mann und Göttergatte ja leider wieder daheim).

 

Rückwärtspilger haben es ab Tui zumindest auf dem Zentralweg jedenfalls sehr einfach, weil sie da wieder nur Pfeilen folgen müssen - allerdings nicht den gelben, weil die führen ja nach Santiago, sondern den blauen, die nach Fatima zeigen und einfach nur umgekehrt den gleichen Weg nehmen.

 

 Valenca selbst ist ja nun für mich nicht mehr wirklich neu, weil ich ja vor ein paar Tagen erst hier war, als wir noch hofften, dass Thomas Knie sich schon noch irgendwie beruhigen würden und wir weiterlaufen könnten. Trotzdem stehe ich erneut vor diesem Bollwerk, in dem sich die Innenstadt (viel mehr als die gibt es hier allerdings auch nicht) befindet und halte erneut beim Eintritt durch die meterdicken Mauern die Luft an. Heiliger Bimbam!, die haben sich wirklich zu schützen gewusst! - Mussten sie auch, denn nach der Unabhängigkeit von Spanien, die von dort erst nach vielen Jahren anerkannt wurde, geriet es als eine der wichtigsten Grenzstädte überhaupt immer wieder zwischen Schamützel und musste nicht nur sich, sondern ganz Portugal verteidigen. Wenn man ein gutes Beispiel für "Bollwerk" sucht ist Valenca DAS Vorzeigebeispiel dafür! Und Geradeerstdagewesen hin und her: Als ich durch die Gassen der Altstadt laufe, wird mein Schritt automatisch erneut langsamer und das liegt nicht an der erschlagenden Vielfalt von Handtüchern und Bettwäsche, die vor jedem Haus zum käuflichen Erwerb herumflattert, weil die sind nun echt Geschmacksache. Ich könnte es hier noch nicht wirklich benennen, aber jetzt so hier daheim denke ich, dass es die Jahrhunderte sind, die mich hier umgeben. Die alten Häuser machen in mir irgendwie ein ... besonderes Gefühl und mit besonderen Gefühlen kann ich nicht stramm zumarschieren, sondern ich schlendere, um ihnen genug Zeit zu geben, sich in mir gehörig auszubreiten und zu -toben.

 

In Valenca zu bleiben ist für mich gar kein Thema. Ich werde nach Tui weitergehen und hoffen, dass die Hospitalera wieder in der öffentlichen Herberge ist. Die war nämlich lustig! Als wir vor ein paar Tagenin Tui waren, habe ich einen Blick in die Herberge geworfen. Pflichtbewusst und hilfsbereit fragte uns die Hospitalera, ob wir hier übernachten möchten. Mochten wir aber nicht, weil wir ja 1. ein Hotelzimmer hatten und 2. kurzzeitig (also für mich kurzzeitig) nicht auf Pilgerfüßen unterwegs waren: Wer nicht läuft, sondern mit dem Zug kommt, sollte auch nicht in einer Herberge übernachten wollen! - Das brachte die Senora in ihrem Kabäuschen ganz aus dem Häuschen! Heideröslein!, es hätte nicht viel gefehlt, da wäre sie über den Tresen gehüpft und hätte mich geherzt! Manchmal braucht es wirklich nur ein paar richtige Silben, um einem Menschen ein Lichtlein anzuzünden! Und von diesem Lichtlein habe ich mir selbst einen fetten Schein in den Bauch gepackt und mitgenommen!

 

Ist das nicht eigentlich großartig?, wenn man jemandem mit einer ganz winzigen Kleinigkeit eine Freude machen und sich davon ein großes Stück selbst abzweigen kann? - Ich liebe das! Ich meine: Wie oft laufen wir meckernd durch die Gegend, oder? Wir schimpfen im Auto über die Schnarchnase vor uns, die einfach nicht in die Pötte kommt, während wir es doch so eilig haben und durch das Geschleiche wichtige 5 Sekunden später irgendwo ankommen. Wir verlieren an der Kasse die Geduld, weil die Person auf der anderen Seite der Theke zu langsam die Barcodes über den Scanner zieht. Wir fluchen, stöhnen, zetern so oft über Nichtigkeiten, die es eigentlich gar nicht wert sind, dass man sie kommentiert! Aber mal Hand auf's Herz: Wann habt ihr zum letzten Mal einfach aus der Lamäng heraus einem Menschen etwas Nettes gesagt. Gut, "das haben Sie aber schön eingetippt" ist jetzt vielleicht nicht wirklich der Bringer, aber statt auf eine kleine Hilfe nur "Danke" zu sagen z. B. noch "das war sehr nett von Ihnen" dranzuhängen, wertet den Dank doch ungemein auf und kostet nur einen Atemzug, oder? Und wisst ihr, was das Schöne daran ist?: Ein "Danke" haben wir selbst ganz bald wieder vergessen, meist leider, weil wir uns gar nicht erst die Mühe machen, unserem Gegenüber dabei ins Gesicht zu gucken. Aber wenn wir noch etwas hinterherschieben, ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, in seine Augen zu schauen und bei "Gerne" vielleicht ein kleines Leuchten in ihnen aufblitzen zu sehen ... und genau das dürfen wir dann mitnehmen und haben mit nur sechs Wörtern nicht nur ihm, sondern auch uns selbst ein Geschenk gemacht! So gesehen ist Freundlichkeit also ... nicht so wirklich uneigennützig. -  Hatte ich eigentlich schon einmal erwähnt, dass ich total egoistisch bin? Nein? Na gut, dann tu ich es jetzt: Ich bin total egoistisch! ... Und ein Nimmersatt!

Nun bin ich extra sooo langsam gegangen und doch bin ich furchtbar schnell durch das kleine Städtchen hindurch und verlasse es durch die Portas da Gaviarra (das Bild von ihr steht bei den Ruhetagen am 05.06.2016), einen sehr dusteren und ein bisschen unheimlichen Durchgang durch die Befestigungsanlage. Aber weil die eben meterdick ist, haben die Augen auch meterweit Zeit, sich an das Fehlen von Licht zu gewöhnen. Trotzdem gruselt es mir ein bisschen.

 

Und ein bisschen macht sich auf dem Weg zur Puente International auch Wehmut breit. Gleich verlasse ich endgültig Portugal und dieser Teil meines diesjährigen Caminos ist damit unweigerlich zu Ende. Und wisst ihr was? Ich habe unterwegs oft geschimpft wie ein Brunnenputzer über dieses saublöde Kopfsteinpflaster, das mir manchmal so in die Beine gefahren ist. Jetzt fehlt es mir jetzt schon! Natürlich war es anstrengend, aber irgendwie auch ... charmant. Hm. ... Hm! Es ist schon lustig, wie anders Dinge von der anderen Seite der Zeit aussehen, oder?

 

Mitten auf der Brücke befindet sich eine Markierung, dass man hier Portugal verlässt und Spanien betritt. Und jezt muss ich doch mal lachen: Die ganze Stahlkonstruktion, die übrigens von Gustave Eiffel entworfen worden ist, blinkt nur so vor gelben Pfeilen. Nee, ne? Der Hammer! Ja hat denn der, der die hier hingepinselt hat, gedacht, dass Pilger geistig so umnachtet sind, dass sie ohne diese Zeichen womöglich über die Brüstung klettern, sich in die reizenden Fluten des Grenzflusses Minho stürzen und in ihm gnadenlos verschwimmen könnten? Nicht im Ernst!

 

Auf der anderen Seite finde ich auch gleich einen der Kilometersteine, die so typisch sind für Galicien und mir sooo lieb. Und ich muss an Werner denken, den ich auf meinem ersten Camino Primitivo getroffen habe: Er hat diese Steine so geliebt, dass er jeden einzelnen von ihnen gestreichelt hat!

Ich folge den gelben Pfeilen und denke erst noch, dass die ja ganz schön umständlich nach Tui führen. Aber dann entdecke ich auf dem Gelände des Parador-Hotels ein wunderschönes Steinkreuz mit dem Heiligen Jakobchen. Naja gut, es gibt auf diesem Weg ziemlich viele solcher Kreuze mit dem Heiligen meines Herzens, aber wenn man hier steht, kann man an einer großen Palme vorbei hinauf zur Kathedrale schauen und das ist richtig schön. Leider kommt man soherum nicht an der Pilgerstatue vorbei, die sich direkt an der Hauptstraße befindet, aber das ist nicht schlimm, denn die kenne ich schon.

 

Und schwups bin ich auch schon auf dem Platz vor eben dieser Kirche und guckt mal, wer da in einer Bar bei Rotwein sitzt und mir winkend entgegenblinzelt! - Ken! Ach, das war nun ja wirklich eine guuute Idee, hierher weiterzugehen! Mein Rucksack hüpft mir schier von ganz alleine vom Buckel und auf meinen Hintern wirken solche Anziehungskräfte vom Stuhl ihm gegenüber, dass ich gar nicht anders kann: Ich MUSS mich hinsetzen und eine Cola bestellen! Irgendwann dackelt auch die Dame, die gestern ein bisschen echauffiert war, weil ich ihn an unseren Tisch gezerrt hatte, an uns vorbei und übersieht uns geflissentlich, worüber ich nun nicht wirklich traurig bin. Nein, wirklich nicht. Tut mir leid. - Nein, tut mir eigentlich nicht wirklich leid; ein solches Gezeter, weil ich einen Mitpilger nicht alleine habe am Nebentisch sitzen sehen wollen, geht gar nicht! Also bin ich eher dankbar, dass sie sehr ... konzentriert auf die andere Seite guckt.

 

Auf dieser anderen Seite befindet sich übrigens die Kathedrale und ich verabrede mich mit Ken für in einer halben Stunde, damit wir sie uns gemeinsam angucken. Eine halbe Stunde, länger brauche ich nicht, um zur Herberge zu stupfen (leider ist die Hospitalera nicht da, schade!), meinen Schal und meinen Schlafsack auf ein Bett zu platzieren und zu duschen. Also betreten wir gemeinsam dieses Gotteshaus, das mir innen erst einmal ein bisschen den Atem nimmt, weil es mit seinen Stützbögen schon ... ein bisschen ... beeindruckend groß und wuchtig ist. Beim Besichtigen verlieren wir uns aber, weil ich ein bisschen länger brauche.

 

Habt ihr das schon einmal gemerkt?: Es gibt Gesamtansichtsgucker und Kleinaufnahmengucker. Ich gehöre zu Letzteren. Ich kann mit einem Blick auf die große und ganze Schönheit von etwas nicht wirklich gut umgehen (ich kann übrigens auch nicht querlesen, sondern brauche jedes einzelne Wort und bitte mit Betonung). Es überfordert mich einfach. Das ist, wie mit diesen Wimmelbildern: Man kann das ganze Bild bestaunen ... oder sucht sich kleine Ecken davon aus, nimmt Einzelheiten, einzelne Schnitzereien ... und dann schön langsam eine nach der anderen. So gucke ich jedenfalls ... und brauche entsprechend lange. Aber das ist nicht schlimm, denn so hat Ken einfach noch ein weiteres Glas Wein mir voraus, als wir uns an schon bekannter Stelle wiedertreffen und der Wirt mich fragt, ob ich noch eine Cola haben möchte. Woher weiß er das nur?