Tui - Redondela

So frisch, fröhlich und frei ich gestern drauf war, so traurig beginnt mein Tag: Ich muss mich von "meinen Franzosen" verabschieden, die mir doch in diesen Tagen sehr ans Herz gewachsen sind. Und das ist schon ein bisschen ... nicht schön. Wir treffen uns in der Bar, in der ich, als sie angewatschelt kommen, gerade fast fertig bin mit meinem Frühstück, was auch gut so ist, denn irgendwie will dann gerade nix mehr durch meinen Hals. Dass sie "nur" bis O Porrino gehen, hatten sie mir gestern schon gesagt. Mein Tagesziel für heute ist Redondela. Und weil ich nun auch noch vor ihnen aufbreche, ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir uns noch einmal begegnen. Im Nachhinein muss ich gerade mal stutzen, denn so lieb mir die beiden geworden sind - ich kriege es nicht hin, sie zu umarmen. Vielleicht auch, weil ich Angst habe, dass ich dann bei mir Schleusen öffne, für die ich eine ganze Weile brauchen werde, sie wieder zu schließen. Ich weiß es nicht. Also schrubbeln wir uns gegenseitig über Arme und Rücken und ich sehe zu, dass ich Land gewinne, denn nichtumarmen hin und her: Meine Schleusen haben da so ihre eigenen Gesetze.

 

Ich fürchte, auch den Rest meiner Pilgertruppe werde ich nun nicht mehr sehen. Das macht mich ein bisschen traurig. Irgendwie sind sie nicht ganz so wie meine Pilgerfamilie von vor zwei Jahren auf dem Camino Primitivo und auch nicht wie die Gruppe, in der ich vor drei Jahren auf dem Camino Francés in Santiago ankam, ich habe nicht ganz so diesen herzlichen und wunderschönen Kontakt zu ihnen, was aber ausschließlich an mir liegt. Ich hatte mir diesen Camino eben ganz anders vorgestellt, ganz anders geplant, mit Thomas zusammen. Nachdem er abbrechen musste, war ich, denke ich, einfach nicht bereit, mich wirklich auf andere Menschen einzulassen. Ich war ja noch nicht einmal bereit, den Küstenweg weiterzugehen, sondern bin auf den Zentralweg umgeschwenkt. Wenn es noch passt, werde ich heute noch nach Mougas zurückfahren und dort anknüpfen, wo wir abgebrochen haben, während die, mit denen ich die letzten Tage verbracht habe, weiter in Richtung Norden stapfen werden. Dann sind sie alle weg und das macht mich schon ein bisschen ... herzschmerzig.

 

Unterwegs fällt mir auf, dass es seit Tui deutlich voller geworden ist auf dem Weg. Immer wieder begegnet mir z. B. ein kleines Trüppchen älterer spanischer Herren, die mit Tagesbeutelchen unterwegs sind und an mir irgendwie ihre Freude zu haben scheinen, was ich nun nicht wirklich nachvollziehen kann, denn zumindest, wenn ich auf Riechweite herangekommen bin, würde ich mir an ihrer Stelle doch schleunigst aus dem Weg gehen. Tägliche Handwäsche ist ja schön und gut, aber langsam fange ich trotz wohlduftender Shampoos echt an vor mich hinzumüffeln.

 

Jedenfalls ist es deutlich voller als vorher, denn in Tui starten die 100-km-Pilger, also die, die "nur" die letzten 100 km gehen, um in Santiago eine Compostela zu bekommen. Aber bitte: Es ist KEIN Vergleich mit den letzten 100 km auf dem Camino Francés, aber so gar gar nicht! "Voller" ist da doch ein sehr dehnbarer Begriff, denn wenn bis hier ein Schwung von vielleicht 20 - 30 Pilgern pro Tagesetappe unterwegs war, sind es jetzt vielleicht etwa 15 mehr plus Radelfahrer, die hier aber sehr gediegen in die Pedalen treten: Sie schreien nicht, erwarten nicht, dass man sofort zur Seite hüpft und fahren einem nicht schier in die Hacken. ... Hm. Eigentlich blöd, weil jetzt kann ich gar nicht über sie schimpfen. So ein Verlust!

 

 

Irgendwann lande ich dann vor diesem Gesamtkunstwerk und ich hoffe wirklich, dass das recht lange genau so erhalten bleibt, weil es einfach ganz großartig ist! Dahinter, das weiß ich von Klümpchen, teilt sich der Weg in eine alte Route, die aber durch ein ziemlich tristes Industriegebiet führt, und eine neue Route, die zwar auch fast ausschließlich auf Straßen verläuft, die aber weitestgehend unbefahren sind.

 

Hier muss ich mal etwas einfügen, weil mir das wirklich am Herzen liegt und weil mir das ein bisschen über den heutigen Trennungsschmerz hinweghilft: Die Menschen, denen ich auf meinen Wanderungen begegne, sind mir sehr wichtig, lieb und wertvoll. Ebenso wichtig, lieb und wertvoll sind mir aber auch ganz viele Pilger, die mich von zu Hause aus begleiten und immer wieder einen Tipp oder Rat für mich haben oder mir auch mal wieder per E-Nachricht auf die Füße helfen, wenn ich gerade in großer Lustlosigkeit versumpfe oder bei mir, ich schiebe das dann immer auf die lange Tagesetappe und meine Erschöpfung, im Kopf alles komplett durchknallt und ich kaum noch weiß, wo ich gerade bin. Das tut mir so gut! und ich bin so dankbar dafür!

 

Von Klümpchen also weiß ich, dass sich hinter diesem Gesamtkunstwerk der Weg teilt und ich, wenn ich eben nicht durch das Industriegebiet stolpern will, links abbiegen muss. Um mich zu orientieren, brauchte ich nur den schwarzen Überpinselungen ehemals gelber Pfeile zu folgen. Und glaubt mir: Die sind so auffällig, dass selbst ich mich nicht verlaufen kann - und das will ja schon was heißen! Sie haben, hingestrichen von Wirten, die auf der alten Wegführung Bars eröffnet haben und jetzt um den Umsatz der Neuwegfolgepilger bangen, ihren Zweck, eben diesen neuen Weg zu verdecken, eindeutig verfehlt. Viel auffälliger kann man auf ihn nicht hinweisen! Allerdings weiß ich auch, dass es auf der neuen Route erst in ein paar Kilometern an einem Motodrom eine Bar gibt. Ansonsten steht da unterwegs noch ein Getränkeautomat ... und sonst nix. Aber ich bin ja wohl gerüstet und Werksgelände und die Einfallstraße nach O Porrino finde ich jetzt nicht wirklich verlockend. Ich biege also links ab, verbringe eine leider viel zu kurze Zeit aber sehr schön zwischen Wiesen und Bäumen, stupfel dann über Asphalt und folge am Ende einem Wasserlauf. Gut, gleich neben mir befindet sich eine Autobahn, aber ich habe ja Musik, stopfe mir die in die Ohren und kann sie so hervorragend ausblenden.

 

An der Bar bin ich übrigens, ich war ja wie gesagt wohl gerüstet, vorbeimarschiert. In O Porrino allerdings bin ich so kaffeedurstig und hungrig, dass das Dazuhäppchencroissant, das der Wirt mir noch vor meinem Kaffee auf die Theke stellt, so schnell in meinem Mund verschwindet, dass der schon an der Richtigkeit seiner sieben Sinne anfangen will zu zweifeln, war er sich doch ganz sicher, dass er mir das schon gegeben hatte, hatte er aber wohl doch nicht ... Ich muss so lachen! Er guckt mit so großen Fragezeichen auf das leere Tellerchen und will mir gleich noch ein Häppchen auflegen und ist sichtlich erleichtert, als er sieht, dass ich noch kaue. Artig entschuldige ich mich für diese Unhöflichkeit (Heideröslein! Ich an seiner Stelle würde von mir denken: Was ist das denn für eine! - Aber ich an meiner Stelle kann einfach nicht länger warten), erkläre ihm, dass ich großen Hunger habe ... und bekomme gleich doch noch ein Croissantchen, damit ich ihm auf dem Weg nach draußen nicht kraftlos in den Weg plumpse. Ist das lieb!

 

Mein Höhepunkt des Tages sollte eigentlich das Kirchlein Santiaguino werden, das auf einer Karte besonders hervorgehoben wird und auf das ich mich besonders freue. Allerdings vergesse ich vor lauter Gewatschel, rechtzeitig noch einmal auf die Karte zu gucken, komme dann an einen Rastplatz, denke noch, dass ich erst an diesem Gotteshäuschen Pause machen möchte und watschele erwartungsfreudig ... an ihm vorbei. Es befindet sich nämlich genau an eben diesem Rastplatz, den ich so geflissentlich ignoriere. Merken tu ich das aber erst eine ganze Weile später, nachdem ich ellenlang immer völlig unbepfeilt geradeaus und bergab durch fast den ganzen Ort getrottelt und nur ein bisschen unsicher bin, ob dem Markierer wohl auf der Brücke über den Minho/Mino die gelbe Farbe ausgegangen ist oder ich mich vielleicht doch irgendwo vertan habe. - Kennt ihr das?: Der Kopf sagt, irgendwas kann hier nicht stimmen, schließlich hat man die letzte Markierung vor Unzeiten zum letzten Mal gesehen, das KANN ja gar nicht richtig sein!, und der Bauch sagt, dass er den Füßen auf gar keinen Fall das Signal geben wird, den ganzen Weg wieder zurückzugehen - und dann auch noch bergauf! Dann kommt der Pilger in mir durch, der sagt, dass der Heilige Jakobus es schon irgendwie richten wird. Manchmal tut er es ... meistens nicht, eine Erkenntnis, die mein Kopf durchaus längst erlangt hat, den Weg zu meinem Bauch, und der ist viel umfangreicher und entsprechend durchsetzungsvermögender als mein Kopf, noch nicht gefunden hat.

 

Hier allerdings bin ich beim Jakobchen in besten Händen: Fast ganz am Ende des Ortes fängt mich erst wieder ein gelber Pfeil ein und winkt mich nach links zu einer Bar, in der ich nun auch keine Rast mehr machen möchte, weil ich gerade noch ein bisschen trotzig bin, weil sich das Kirchlein mir nicht totesmutig mitten in den Weg geworfen hat (Lach! Ich muss gerade an eine liebe Bekannte denken. Die hat den Frauenarzt gewechselt, nachdem ihr alter ein wenig süffisant meinte, in den Wechseljahren würden Frauen 5 kg zunehmen. Das wollte sie auf gar keinen Fall! und der Arzt hat sie damit das letzte Mal gesehen!), biege nach links ab, werde dann aber zum Glück gleich vom wild herumfuchtelnden Wirt eingefangen und nach rechts und damit wieder in die richtige Richtung verdreht. Das ist ja nett! Während ich so weiterstupfel, habe ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil ich meinem Helfer noch nicht einmal einen café con leche (ach, ist das schön, das wieder sagen zu können ohne Angst haben zu müssen, dem Gegenüber gegen seinen nationalstolzigen Karren zu fahren - wobei ich das mit dem Stolz durchaus verstehen kann und nicht hässlich meine, aber Spanisch ist für mich einfach DIE Caminosprache) abgekauft habe, und des dauert gar nicht lange, da bereue ich das noch viel mehr, weil das nämlich seit lnagem die erste und für noch einige Zeit die letzte Gelegenheit auf ein koffeinhaltiges Heißgetränk gewesen ist und wäre. Das habe ich nun von meinem Gezicke mit mir selbst! Heilige Unvernunft! Ich doofe Nuss! - So, das musste nun auch mal gesagt werden.

 

Durch den Wald komme ich in den nächsten Ort und an einer Herberge vorbei, über die es noch nirgends Informationen gibt. Sie muss wohl ganz neu sein, was ein bisschen bezeichnend dafür ist, dass die Pilgerei in Spanien ein echter Wirtschaftsfaktor geworden ist. Auf dem Camino Francés, was ja so die Route nach Santiago ist, die als DER JAKOBSWEG bezeichnet wird, ist mir das am meisten aufgefallen. Da sind die Bars und Herbergen über zwei, drei Jahre nur so aus dem Boden gehüpft. Auch auf dem Camino Primitivo gab es innerhalb eines Jahres einige Albergues mehr und einige, die in diesem Jahr eröffnet wurden. Und das ist durchaus keine schlechte Sache für uns Pilger. Ich weiß noch, wie Thomas und ich in unseren ersten beiden Jahren von viel Geld träumten, mit dem wir alle möglichen leerstehenden Häuser aufkaufen und zu Herbergen umfunktionieren wollten, weil das Übernachtungsangebot zu dieser Zeit noch ein bisschen sehr eingeschränkt war. Inzwischen hat sich das grundlegend geändert und das natürlich nicht aus uneigennützigen Gründen. Natürlich machen die Menschen mit uns Pilgern ihr Geld, aber mal Hand auf's Herz: Warum nicht? Mir, meinem Kaffeedurst und Schlafbedürfnis kommt das doch nur entgegen! Und ich hatte auf allen meinen Wegen nur ausgesprochen selten das Gefühl, dass ich von Wirten oder Herbergsbesitzern als Geldbringer benutzt worden wäre oder auch nur ansatzweise unfreundlich behandelt wurde. Ganz im Gegenteil! Die Menschen sind, wie ich sie kennengelernt habe, ausgesprochen nett, zuvorkommend, hilfsbereit und für mich ein großer und schöner Teil meiner Wanderungen. - So, das musste nun auch mal gesagt werden.

 

Wo bin ich? - Ach ja, an dieser neuen Herberge in einem Ort, das auch Padrón heißt, aber bitte nicht mit dem "richtigen" Padrón, in dem das Heilige Jaköbchen der Legende nach seine erste Predigt auf spanischem Boden gehalten haben soll und in dessen Flussmündung sein Sarg angelandet ist, verwechselt werden darf. Und während ich in der Bar gegenüber endlich meinen Kaffee schlürfe, überlege ich noch kurz, hier zu bleiben. Müde genug wäre ich ja und heute ist eh nicht so wirklich mein Tag. Aber neinneinnein, ich habe mir Rendondela vorgenommen und das ziehe ich jetzt durch. Also alla hopp und ab durch die Mitte, auch wenn jeder Schritt schwerer und schwerer wird. - Ich musste daheim so lachen, als ich an meinem Bauchfüßler arbeitete und meine Aufzeichnungen mit den Karten verglich, weil die Strecken, die sich so endlos anfühlten, immer nur wenige Hundert Meter waren. Heideröslein!, was ich da alles in mein Handy hineingepfinst hab, hört sich an, als ob ich mich auf den letzten Metern vor dem Gipfel des Mount Everest befunden hätte ... nur mit dem Unterschied, dass ich hier genug Luft hatte, vor mich hinzuknottern, wie ein Rumpelstilzchen.

 

Als ich nach Redondela komme, bin ich reichlich geschafft, die Herberge dafür aber completo. Na klasse! Aber die Hospitalera sagt mir, ich brauche nur ein bisschen weiterzugehen und da ... kriege ich tatsächlich ein Bett in einem Dreierzimmer, das ich mir mit zwei portugiesischen Mädels teile, die leider kein Englisch können und sowieso viel zu sehr mit sich beschäftigt sind, als dass sie sich mit so einem ollen Weib wie mir auseinandersetzen möchten. Ich finde das auch gar nicht schlimm und beobachte sie ein bisschen wehmütig amüsiert aus dem Augenwinkel: So war das also, als ich jung war! Genau so! Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, und trotzdem liegen da gefühlt fünf Leben dazwischen.

 

Nachdem sich die Nichte der Hospitalera wirklich alle Mühe gegeben hat, für mich eine Busverbindung nach Mougas herauszusuchen und ich sowohl die Bushaltestelle als auch eine Bar mit leckerem Abendessen gefunden habe, schlendere ich zurück zur Albergue und treffe doch auf dem Platz vor ihr tatsächlich die vegetarische Holländerin und ein junges Mädel wieder, das ich auf dem Weg hierher auch immer wieder getroffen habe. Nee, ne! Und dabei habe ich heute den ganzen Tag damit verbracht, mich innerlich von meinen bisherigen Weggefährten zu verabschieden. Nun war die ganze Mühe für die Büx! Na klasse! Und nachdem wir noch eine wunderschöne und längere Weile so in der Abendsonne vor uns hinerzählt haben, müssen wir uns dann doch noch mit einer dicken Umarmung voneinander verabschieden. Hm. Aber ich habe es ja so gewollt, also Augen trockenwischen und durch!