Mougás - San Pedro de la Ramallosa

Der Tag startet heute in lebhaftem Krüddelgrau, was aber erst einmal gar nicht schlimm ist. Ich finde, das Meer bei Sonnenschein ist schon schön, aber aufgewühlt und unwirsch gefällt es mir noch viel besser. Nein, bitte wundert euch nicht über mich, ich bin in vielen Sachen ... ein bisschen anders als andere. Ich habe auf unserem ersten Camino immer wieder für Belustigung gesorgt, weil ich, während andere Blumen fotografierten, tote Bäume ablichtete. Kinders, tote Bäume sind so schön! So zerknurpelt, so ... ein bisschen ein Zeichen für: Ich lebe zwar nicht mehr, aber es gibt mich noch! - Ist es nicht das, was wir uns wünschen, dass wir, wenn wir nicht mehr leben,  nicht einfach wutsch und weg sind?

 

Hier muss ich mal eben an meinen Papa denken, der vor ein paar Tagen 90 Jahre alt geworden wäre, wenn er nicht mit 57 gestorben wäre, was für uns alle ein Schock war, von dem sich bis heute keiner von uns erholt hat. Er hat es geschafft, für ihn gilt begraben und vergessen nicht, nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Wann auch immer ich mit einem meiner Geschwister oder Neffen spreche, dauert es gar nicht lange, da stellt er sich in die Mitte und ist einfach da. Ich kann mich an kein einziges Treffen erinnern, an dem er nicht früher oder später aufgetaucht wäre. Er hat es wirklich geschafft, über all die Jahre hinweg gegenwärtig zu sein, unvergessen, nach wie vor der Mittelpunkt in unserem Leben. Und es ist noch gar nicht sooo lange her, da traf ich bei einer Pilgerberatung in Speyer einen Herrn aus Seligenstadt und als ich sagte, dass ich auch von dort komme, entlarvte er mich sofort als "dem Schließmann Seppel soi Klaa" (seine Kleine) - der Hammer! Da stand ich mit meinen fast 50 Lebensjahren und war wieder "dem Schließmann Seppel soi Klaa"! Und das mehr wie gerne (als Jugendliche sah ich das freilich gaaanz anders, denn als "dem Schließmann Seppel soi Klaa" kann man nix, aber auch rein gar nix machen, ohne dass es sofort gepetzt wurde. Mit Argusaugen wurde alles beobachtet, was ich tat - sogar ob ich auch freundlich genug grüßte! Das war für mich ein echtes Problem, weil ich ja nun ein bisschen Gesichtsblind bin und manchmal mich selbst morgens im Spielgel nur dann erkenne, wenn mein Gegenüber die gleichen Grimassen schneidet wie ich). - Ich glaube, Papa war auch der Grund dafür, dass ich all die Bäume fotografiert habe. Er war wie sie, er lebte zwar nicht mehr, aber er war noch da, ist noch da, wird immer noch da sein.

 

 

Also stiefele ich am aufgewühlten Meer entlang und bin völlig begeistert. Nur einen blöden Fehler habe ich gemacht: Ich bin fest davon ausgegangen, dass da schon früher oder später eine Bar kommen würde, in der ich in Ruhe frühstücken kann. Tatsächlich hat es einige Restaurants, die aber, wenn überhaupt, erst später öffnen. Das ist jetzt nicht ganz so schön. Selbst auf den beiden nächsten Campingplätzen gibt es noch keinen Kaffee. Die sind zwar auf Pilger eingestellt und bieten ihnen für kleines Geld, 5,-- bzw. den Verzehr von zwei Mahlzeiten, eine Unterkunft, aber für koffeindurstige Wanderer ... Hm.

 

Dabei wird der Himmel immer dunkler und das Meer immer tosender. Als ich ein Bushaltestellenhäuschen passiere, gucke ich noch einmal prüfend nach oben, beschließe aber dann einfach, die Wolken zu ignorieren, was sich schon wenige Meter später als ganz schlechte Idee herausstellt, denn der Himmel öffnet seine Schleusen und es beginnt so plötzlich so gewaltig zu regnen, dass es gerade gar keinen Sinn macht, den Rucksack abzusetzen und den Regenüberzieher drüberzupfriemeln. Also drehe ich auf dem Absatz um, wetze hoppelnd wieder zurück und bin tritschnass, als ich den Unterschlupf wieder erreiche. Hm. Ist das heute nicht mein Tag? - Nein, ich glaube, nicht so wirklich. Nun denn, es lässt sich jetzt nichts ändern, also schüttele ich mich ein bisschen, setze meinen Rucksack ab, setze mich und knabbere ein wenig unterkühlt einen Apfel, wobei "unterkühlt" hier sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne gemeint ist. Sandra ist da viel besser drauf, kommt durch den Regen gestapft, hält kurz für ein paar Worte an und marschiert dann unbeirrt weiter. Also wenn es für sie heute auch nicht ihr Tag sein sollte, ignoriert sie das derart überzeugend, dass es der Tag wahrscheinlich ebenso wenig merkt wie ich!

 

An diesen Morgenregen werde ich mich aber in den nächsten Tagen gewöhnen und ihn einfach einzukalkulieren lernen, denn der wird mich erst einmal begleiten. Dafür sind aber die Nachmittage trocken.

 

Trocken bleibt es nach diesem etwas längeren Schauer auch vorerst und der Weg führt mich noch einmal kurz unten direkt am Meer entlang, sonst aber immer auf dem Fußgänger- und Fahrradweg der Küstenstraße. Natürlich ist das viel Asphalt, aber weil nicht so viele Autos fahren und man als Pilger eben ganz viel Platz hat, ist es gar nicht sooo schlimm. Und kurz bevor es wieder anfängt zu regnen, treffe ich Sandra wieder und wir fallen gemeinsam endlich!, endlich! in die erste Bar ein, die sich uns am Ortseingang von Baiona unterkommt. Hmmmm, ein Tässchen Koffein mit Milchschaum drauf, dazu ein Croissant - hach, Kinders, so können öfters Tage kommen, die nicht meins sind!

 

Einmal zucken wir kurz und wollen aufbrechen, aber da kommt der nächste Regenguss und wir schlabbern noch ein Tässchen. Auch als es dann wiklich nicht mehr regnen zu wollen scheint, trauen wir dem Frieden nicht so wirklich. Außerdem haben wir Zeit und sind gerade total entspannt. Also machen wir ein bisschen Sightseeing. Wir schlendern durch das Castillo de Montereal auf der vorgelagerten Landnase, weil ich irgendwo etwas von einer alten Kuppel gelesen habe, die sich dort befinden soll. Ich weiß nicht so wirklich, was ich mir darunter vorstellen soll. Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir sie nicht finden, sondern nur viele Bäume, die innerhalb der alten Befestigungsmauern wachsen, und natürlich dem Hotel, aber schön ist es hier auch ohne Kuppel. Anschließend stapfen wir durch die Altstadt hinauf zu den Kirchen Santa maria und Santa Liberata. In beiden finden wir unseren Lieblingsheiligen, in der ersten als Apostel, in der zweiten als Matamoros (Maurentöter - ich muss schon sagen, als Apostel mit muschelbesetztem Mäntelchen und Stock mit Kalebasse gefällt er mir besser als als Kämpfer auf einem feurigen Ross mit Schwert in der Hand und über die Köpfe der Mauren hinwegfegend. Ich mag mir auch nicht vorstellen, dass der Held meiner Wanderungen derart aggressiv sein soll. Neinneinnein, das ist nicht das Bild, das in meinem Kopf vorkommt. Allerdings bin ich nur zu Gast auf der Iberischen Halbinsel, deren Geschichte geprägt ist von der Eroberung durch die Mauren und die Reconquista (Rückeroberung). Trotzdem mag ich Santiago anders einfach lieber).

 

Vor den Kirchen spricht uns ein Herr an und ich muss mal lachen: Er war selbst schon zu Fuß unterwegs nach Santiago, kennt sich ziemlich gut aus auf dem Küstenweg und platzt schier, weil er uns das auch alles mitteilen möchte. Das ist so typisch für Pilger! Wir haben quasi einen gemeinsamen Nenner, nämlich den Camino, und der ist so mächtig in uns verankert, dass wir schier aus dem Häuschen geraten, wenn wir uns auf ihm treffen können - und sei es auch nur verbal, indem wir uns austauschen, den anderen an unserem Weg teilhaben lassen und selbst an dessen Wanderung teilhaben können. Glaubt ihr nicht? - Na, was denkt ihr denn, warum ihr diesen Blog hier gerade lest! Es entstehen so viele Bücher auf den Caminos, weil man sie einfach mitteilen will, andere mitnehmen möchte, ihnen ein bisschen von dem vermitteln möchte, was man erlebt, gefühlt, gedacht, erfahren hat, weil man die Eindrücke teilen möchte, die so ... mächtig sind, so mächtig, dass man sie einfach nicht alleine tragen kann. Dabei ist es so schwer sie Nichtpilgern wirklich 1 zu 1 zu vermitteln, weil Camino einfach anders ist als eine Mittelmeerkreuzfahrt oder zwei Wochen all inclusive in der Karibik. Da sind so viele Gefühle dabei! Und die kann man vielleicht wirklich nur nachvollziehen, wenn man Jakobsweg einmal selbst erlebt hat. Sonne, Meer, Strand und Palmen sind großartig, aber Camino geht ganz tief in die Menschen hinein. Sicher kennt ihr alle die Ansichtskarten: Wetter klasse, Hotel bombastisch, Essen ausgezeichnet! Pilger würden wohl eher schreiben: Wetter zu heiß/zu kalt beim Laufen, endlich mal halbwegs gut geschlafen, weil kein Schnarcher geröhrt hat, wie ein brünftiger Hirsch, den Füßen geht es leidlich, die letzten Blasen sind ein bisschen abgeheilt und drücken nicht mehr ganz so dolle, dafür zieht es heute in meinen Hüften. Hört sich grausig an, oder? Was man an diesen Karten nicht sehen kann, ist das funkeln in den Augen des Schreibers, dieses Blitzen, das von ganz tief innen kommt, dieses ... ach, ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ist, glaube ich, eine Mischung aus Glück, Zufriedenheit, Nachdenklichkeit, Reinheit mit sich selbst, um sich wissen und in sich ruhen gewürzt mit einer Prise Stolz - es gibt kein Wort dafür, es ist einfach Pilger.

 

Wir haben es nicht eilig und spazieren am Hafen entlang nach San Pedro de la Ramallosa. Gleich rechts der Straße führt eine wunderschöne alte, romanische Steinbrücke über den Rio Minor, in dessen Mitte eine Figur des San Telmo steht. Ich finde auch eine Hinweistafel und kann es schier nicht fassen, was ich da lese: Wenn Damen nicht schwanger wurden, sollten sie hier nach Mitternacht den ersten Mann, den sie trafen, davon überzeugen, ihnen Wasser auf die Gebärmutter (das steht da wirklich!) zu spritzen und der Pate des dann prompt kommenden Kindes zu werden! - Meine Lieben!, ich finde ja schon immer bei der unbefleckten Empfängnis Marias, dass wir nicht alles, was in der Bibel steht, zu wörtlich nehmen dürfen. Bei der Schaffungsgeschichte wissen wir es ja inzwischen auch besser, nämlich, dass die Erde aus dem Urknall entstand, und ich erinnere mich nur zu gut daran, dass hierzu bereits während MEINER Schulzeit (und das ist ja nun doch eine ganze Weile her) gelehrt wurde, dass wir immer hinterfragen soll, nicht, was die Bibel wörtlich schreibt, sondern was damit gemeint ist. Immerhin hat die Geschichte mit Noahs Arche ja auch ihren sehr reellen Hintergrund, denn das Leben auf der Erde stammt tatsächlich aus dem Wasser, wenn auch einfach ein bisschen anders, was sich die Menschen vor all unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen einfach nicht vorstellen konnten. So denke ich bei der Jungrau Maria auch immer, dass es ja nun nicht wirklich wichtig war, ob der Heilige Geist auf sie herniederkam. Wichtig ist, dass sie Jesus geboren hat (und am Jahresende ist es mir noch wichtig, dass er in einem Stall geboren wurde). Also mal Hand aufs Herz: Wasser auf die Gebärmutter spritzen!!!! ... ist ja nun ganz bestimmt nicht wörtlich gemeint! Wie hätten denn dann die Kinder aussehen sollen? Fischschwänze? Glupschaugen? Kiemen hinter den Ohren? - Neinneinnein! Und da fängt dann meine Phantasie an, wie junge Mädels auf der einen und mehr oder weniger junge Männer auf der anderen Seite der Brücke anstehen und darauf warten, dass ... Hat man sich da verabredet? War das ein Freifahrtschein für Seitensprünge? Und wenn man es dem Glück überlassen hat: War das dann immer eine gute Idee oder war man beim Treffen unter den Augen des Heiligen womöglich ... ... unangenehm überrascht? Oder war das der Grund, warum es um Mitternacht sein musste (und am besten noch bei Neumond!), damit man seinen Gegenüber nicht sah? - Uuuuuh, ich glaube, ich mag mir das alles gar nicht vorstellen! - Tu es aber doch, weil ich es nicht lassen kann! Und was hat man denn hinterher über das Kind gesagt? Ganz der Pate!?

 

Laach! Da muss ich daran denken, wie wir einmal auf den Kinderwagen eines Freundes aufgepasst haben, damit der schnell in eine Drogerie hüpfen konnte. Es dauerte nicht lange, da kamen Bekannte und waren völlig begeistert, wie ähnlich uns das Kind sieht. Ganz wie aus dem Gesicht geschnitten!

 

Ähm, ich glaube, wir gehen dann mal lieber weiter, denn zur Herberge ist es nicht mehr weit und wir sehen sie schon von weitem am Ende der Straße. Hm. Ist das die Herberge? In echt? - Nee, ne! Die wunderschöne Steinpforte passt eher zu einem Nobelhotel als zu einer Herberge. Da sollen wir schlafen dürfen?

 

Tatsächlich sind die Pilgerräume in einem Seitentrakt eines Hotels: Gemeinsame Waschräme aber Doppelzimmer mit frisch bezogenen Betten und frische, weiße, duftende Handtücher liegen auch für jeden parat. Kinders!, der Himmel kann nicht schöner sein! Meistens merke ich es ja gar nicht mehr, wenn ich mich mit meinem müffelnden Handtuch abtrockne, denn es riecht ja so gesehen nicht anders als der Rest meiner Sachen. Aber wenn man mit der Nase in dieses weiße, frische Handtuch eintaucht, dann beginnen die Engelchen auf ihren Wölkchen zu frohlocken!

 

Nein, es ist wirklich wunderschön hier! Und der Garten erst! Sandra und ich beschließen später beim Einkaufen, dass wir nicht gerne nach einem Restaurant suchen, sondern lieber im Garten essen möchten. Aber vorher gucken wir uns - das hat uns der Herr vor den Kirchen gesagt, dass wir das ganz bestimmt machen sollen - noch den Hórreo rechts hinter dem Gebäude an, einer der größten seiner Art!

 

So schön es hier ist - ich glaube, der frische Duft des Handtuches hat da etwas in mir heraufgebracht, was ich die ganze Zeit weggeschoben habe: Ich möchte nach Hause. Am liebsten jetzt und sofort. Drei Wochen sind für mich einfach mehr als genug. Ich will heim! Während wir im Garten sitzen und unser Baguette knabbern, läuft mein Kopf auf Hochtouren und rechnet, wie schnell ich wo gehen muss, damit ich für am besten gleich einen Flieger buchen kann. Wenn ich jetzt durchstarte, schaffe ich es dann bis morgen ... Na gut, dann eben erst nächste Woche. Aber dann ganz bestimmt - beschlossen, Thomas per Handy verkündet und schon geht es mir wieder besser!